Umstrittene Äußerungen: Die Provokation wird Karl Lagerfeld nur unterstellt - WELT (2024)

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Es ist nicht sein Ring. Dass er trotzdem eingestiegen ist, hat emotionale Gründe und wenig mit der ihm oft unterstellten Lust an Provokation zu tun. Schon das ist oft ein Missverständnis: Karl Lagerfeld, der vieles aus ausgeprägter Höflichkeit nicht tut (oder gerade deswegen), sagt stets, was er denkt.

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In der wohltemperierten Öffentlichkeit klingt das schnell mal nach Provokation – oder wird vorsätzlich so verstanden. Je nachdem, wer wie zuhört. Lagerfeld denkt schnell, und er redet schnell. Er wird sehr viel gefragt, und er gibt sehr viele Antworten. Er ist schlagfertig, witzig, und das in vielen Sprachen.

Doch jetzt scheint es, als habe er sich versprochen. Mit seinem Auftritt in der französischen Fernseh-Sendung „Salut les Terriens“ und seinen klaren Statements zu muslimischen Flüchtlingen kam mit der ungeheuren Wucht von Fernseh-Wahrnehmung noch einmal das Thema hoch, das ihn schon lange beschäftigt, was aber im privaten Gespräch einen anderen Klang hat als in der öffentlich vorgetragenen Zuspitzung.

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Das Wahlergebnis in Deutschland, der Einzug der AfD in den Bundestag, hat ihn erschüttert, weckte Erinnerungen an Zeiten, die er für immer vorbei hielt; und schürt das Unbehagen, das ihn angesichts des zunehmenden von Arabern geschürten Antisemitismus‘ in Frankreich umtreibt. Sein Interesse an Deutschland ist immer noch groß, aber mehr gen Norden gerichtet, und vor allem schaut er aus Paris auf dieses Land, sieht das große Bild, nicht die kleinen Puzzleteile. Seine elegante Art zu formulieren ist Ausdruck der Zeit, die sein Deutschsein geprägt hat wie die starke Mutter und ihre radikale Abneigung der Nationalsozialisten.

Obwohl gänzlich unbeteiligt am Grauen, fühlt er bis heute große Schuld und Verantwortung Juden gegenüber. „Ich bin ja deutscher Staatsbürger.“ Er wird umworben und viel geehrt von höchsten Stellen in Frankreich, fühlt sich zu Hause in Paris, ist Ehrenbürger dort und nicht etwa in der Heimatstadt Hamburg. Dass er seine Staatsbürgerschaft gleichwohl nie abgelegt hat, hat sicher auch damit zu tun, dass er nicht auf die Idee käme, seine Schuldverantwortung abzugeben.

Auch hier wurde er geehrt

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Deswegen hat es ihn auch ziemlich getroffen, dass ausgerechnet ihm jüngst in einem Kommentar quasi unterstellt wurde, er wäre ein Antisemit, weil er in einer Karikatur Harvey Weinstein als Schwein dargestellt hat. In einem Telefonat Mitte November entgegnete Lagerfeld: „Das hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Ich wusste gar nicht, dass die Nazis Juden als Schweine darstellten. “

Aber offenbar lese der Autor keine internationalen Zeitungen, sonst „wüsste er, dass die ganze Welt Weinstein als Schwein bezeichnet, auch wenn der Begriff in anderen Sprachen vielleicht harmloser klingt.“ In Frankreich gäbe es zudem eine viel beachtete Initiative einer Journalistin unter dem Hashtag #balancetonporc. Was mit „Verpfeif dein Schwein“ übersetzt werden kann, quasi die französische #metoo-Bewegung, in der betroffene Frauen anonym ihre Geschichte von sexuellen Übergriffen erzählen und auch Namen nennen können. „Das habe ich mit meiner Karikatur ins Visuelle übersetzt“, so Lagerfeld.

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Anwürfe wie die des Kommentators verletzen ihn. Weit mehr als der Sturm, den seine Sätze wie: „Selbst wenn Jahrzehnte dazwischen liegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde ins Land lassen“ ausgelöst haben. Er war sich darüber im Klaren, als er den politischen Ring betrat, den er eigentlich meidet.

Aber nun gab es gesellschaftspolitischen Kontext. Er sah das Ergebnis als Zeichen an der Wand. Es ärgerte und erschütterte ihn. Er griff zum Stift und zeichnete seinen Frust, schrieb lange Briefe, echauffierte sich backstage nach der Prêt-à-porter-Show in Paris eine Woche später.

Mal wieder nach Paris

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Ja, es war ein grobes Bild, von Paris aus betrachtet und mit Kindheits-Prägung versehen – aber wer wollte es verurteilen, wenn ein Mann seiner Generation unentspannt auf die AfD reagiert?

Lagerfeld ist hochgebildet, darf er nicht emotional überreagieren, weil alles, was er sagt, so leicht zur Schlagzeile taugt? Er ist nicht ausländerfeindlich, er hat Mitarbeiter muslimischen Glaubens, muss er das vorweg schicken, bevor er seine Sorgen formuliert, die nicht nur in Paris längst nicht mehr als Hirngespinste abgetan werden?

Es ist geradezu makaber, dass er, der Mensch Karl Lagerfeld, der sich so um die Präsenz der Rechtsaußen im Bundestag sorgt, mit seinen Flüchtlingsäußerungen auch von den Falschen missverstanden werden kann.

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